Patienten mit Behinderung: 9 Experten-Tipps zum Umgang in der Pflege

Du gehst als Pflegekraft in ein Zimmer auf einer Covid-Station. Ein neuer Patient liegt dort. Der junge Mann leidet an einer Lernbehinderung (psychischen Behinderung) und zeigt deshalb Unverständnis für Deine Aufforderung, einen Mund-Nasenschutz zu tragen. Wie gehst Du als Krankenpflegekraft in einer solchen Situation vor? Die Antwort hierzu gibt es in unseren Tipps für die Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Behinderung.

Zugegeben, Fälle wie diese sind kniffelig. Der Umgang mit Patienten und Patientinnen mit Behinderung erfordert neben der fachlichen Expertise auch ein großes Maß an Fingerspitzengefühl. Gerade im Hinblick auf die Sensibilität, wie Dipl.-Pflegewirtin Petra Ott-Ordelheide vom Evangelischen Klinikum Bethel erklärt. In einem Interview haben wir mit der Expertin über die Kommunikation, Tabus und Besonderheiten im pflegerischen Umgang gesprochen.

Das Evangelische Klinikum Bethel (EvKB) und das Krankenhaus Mara sind rund um Bielefeld auf die Behandlung von erkrankten und verletzten Menschen spezialisiert. Petra Ott-Ordelheide ist dort Ansprechpartnerin für die Pflegeentwicklung in der Behindertenmedizin, Epilepsie und weiteren Bereichen des Krankenhauses. Mit uns hat die Expertin über die Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Behinderung gesprochen.

In diesem Artikel erwarten Dich:

  • Tipps zum Umgang in der Pflege mit Pflegebedürftigen mit Behinderung.
  • Erfahrungsberichte von der Expertin Petra Ott-Ordelheide.
  • Lösungen zu verschiedenen Alltagssituationen im Umgang mit den zu versorgenden Personen.

Petra Ott-Ordelheide hat sich im Forschungsprojekt „Klinik intensiv“ näher mit der Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Behinderungen auseinandergesetzt.

Tipps für Umgang mit Patienten mit Behinderung

#1: Achte auf Deine Wortwahl

Häufig werden allerdings die geistige Behinderung und Lernbehinderung unter einem Begriff vereint. „Das Wort geistige Behinderung ist vor allem international sehr in der Kritik“, sagt Ott-Ordelheide und ergänzt: Es gehe hier um eine entsprechende Stigmatisierung. Entsprechend sollen im Umgang mit Patienten mit Behinderung auch Satzkonstruktionen, wie die „Person ist behindert“ vermieden werden.

„Die Kommunikation mit dem Patienten ist eine Gradwanderung aus Normalität, die wichtig ist, um ein Gefühl der Teilhabe zu entwickeln, aber auch aus Sensibilität, um durch Formulierungen keine Ängste oder ein Unwohlsein zu entwickeln.“ Für Pflegekräfte geht es also darum, mit dem Patienten möglichst normal zu kommunizieren.

Dennoch sollten nach der Auffassung der Pflegeexpertin Alltagsformulierungen wie „wollen wir spazieren GEHEN“ (bei Menschen mit Gehbehinderung) oder „das Essen SIEHT heute aber wieder gut aus, oder Herr Müller?“ (bei Menschen mit Sehbehinderung) entsprechend vom Pflegepersonal reflektiert und später wieder kommuniziert werden. „Wenn ich als Pflegekraft zu mir selbst sage, ‚Mensch, das habe ich aber doof gesagt‘ und mit dem Patienten darüber spreche, dann entsteht wiederum eine vertraute und offene Kommunikationsbasis.“ Nur so könne man als Pflegekraft auch herausfinden, wie sensibel ein Patient auf etwaige Formulierungen reagiere, so Ott-Ordelheide.

#2: Erkenne, wann der Patient Deine Hilfe möchte

Die Behandlung eines jeden Patienten muss individuell auf dessen Bedürfnisse abgestimmt werden. „In der Pflege muss ich von Anfang an schauen, welche Ressourcen ein Mensch mitbringt und welche Hürden in der Pflege dieser selbst kompensieren kann und möchte“, so die Diplom-Pflegewirtin.

Viele Menschen mit Behinderung fühlen sich frustriert, wenn eine Pflegekraft zu viel helfen möchte. Ott-Ordelheide sieht den Schlüssel im richtigen Umgang mit dem Patienten bereits in einer umfangreichen Pflegeanamnese. „Im besten Fall fahren Pflegeexperten zuvor zum Patienten nach Hause und führen Erstgespräche mit ihm oder dessen Angehörigen. Das ist aber natürlich im Akut-Krankenhaus nicht möglich.“

Dennoch empfiehlt sich auch dort der rege Austausch mit der Familie oder Freunden, da so Rituale im Alltagsleben des Patienten herausgearbeitet werden, die die Ressourcen des Behandelnden aufzeigen. „Die Rituale geben dem Patienten in seiner neuen Umgebung Sicherheit, welche eine zentrale Rolle auch in der weiteren Behandlung einnimmt.“

Kommunikation und Verweigerung: So musst Du reagieren

#3: Achte darauf, mit wem du es zu tun hast

Besonders mit Patienten, die eine geistige Behinderung bzw. Lernbehinderung haben, muss die Kommunikation über die Therapie sehr sensibel und vor allem in leichter Sprache erfolgen. „Es ist wichtig, dass die Menschen das Gesagte auch verstehen.“  Das Ausmaß der Kommunikation kann wiederum an den persönlichen Vorlieben des Patienten angepasst werden.

Relevant ist in diesem Zuge das sogenannte Share-Decision-Making. Hierbei wird letztlich in einem Vorgespräch ermittelt, inwiefern der Patient in Entscheidungsfindungsprozesse eingebunden werden soll. „Der eine möchte eben ausführlicher aufgeklärt werden, der andere weniger, manche möchten selbst mitentscheiden, andere vertrauen dem Behandlungsteam“, so Ott-Ordelheide. Bei Menschen mit Lernbehinderung rät sie das Vorgespräch mit den Angehörigen zu suchen.

„Gerade OPs lösen bei vielen Menschen mit Behinderung große Ängste aus. Hier ist es wichtig, die Patienten mit dem passenden Material darauf vorzubereiten. Das kann beispielsweise über Gespräche, Bilder oder durch das Anschauen eines OP-Hemds geschehen.“ Solche Maßnahmen dienen letztlich als Vorbereitung auf die bevorstehende Behandlung, durch diese die Patienten das bevorstehende Ereignis besser emotional verarbeiten können. „Wichtig ist, dass niemand verängstigt ist oder wird.“

#4: Patient hält sich nicht an Deine Vorgaben: Werde kreativ

Was kannst Du als Pflegekraft tun, wenn ein Patient beispielsweise keine Tabletten einnehmen möchte oder, wie bereits zu Beginn des Textes aufgezeigt,  auf der Corona-Station keinen Mund-Nasenschutz tragen möchte? Zuerst solltest Du als Pflegekraft wieder die Angehörigen heranziehen, da diese einen größeren Einfluss auf das Verhalten des Patienten nehmen können.  Sollte das nicht klappen, empfiehlt Ott-Ordelheide nach kreativen Lösungen Ausschau zu halten.

„Wir hatten selbst so einen Fall, dass Patienten die Maßnahme eines Mund-Nasenschutzes aufgrund ihrer Lernbehinderung nicht verstanden haben. Wir haben versucht die Situation zu entzerren. So durfte ein Patient auch kurz ohne Schutz in einem abgetrennten Bereich herumlaufen. Aber natürlich ohne einen Kontakt zu einer anderen Person. Bei einem anderen war es wiederum ausreichend, dass man ihn einfach abgelenkt hat, sodass ihm die Schutzmaßnahme irgendwann gar nicht mehr aufgefallen ist.  Wir haben dann sehr häufig mit ihm gepuzzelt. Wenn Menschen es eben nicht anders verstehen, dann sind solche Maßnahmen letztlich notwendig.“

Rituale und EDAAP: Was Du noch im Umgang mit Patienten mit Behinderung wissen musst

#5: Ein Patient kann seinen Schmerz nicht ausdrücken: Verwende Instrumente

Wenn ein Patient stumm oder taub ist, ist die Kommunikation zwischen Behandelnden und Pflegekraft auch nur eingeschränkt möglich. Sollte es dadurch keinen Weg geben, über den Dir der Patient eine Auskunft über sein Schmerzempfinden machen kann, rät Ott-Ordelheide zu Beobachtungsinstrumenten. „Es gibt Instrumente, wie EDAAP. Durch eine Beobachtungsmethode kann der Patient so sein Schmerzempfinden mitteilen“, so die Pflegeexpertin. Für allgemeine Patienten-Beschwerden gibt es zum Beispiel das Instrument DisDat.

#6: Passe die Umgebung der Patienten auf deren Bedürfnisse an

Der Wohlfühl- und Sicherheitsfaktor ist bei Patienten mit Behinderung von immenser Wichtigkeit im Krankenhaus. Eine Pflegekraft sollte deshalb bestmöglich versuchen, den „Krankenhausaufenthalt aus der Sicht des Patienten zu gestalten.“ Ott-Ordelheide erklärt: Sofern ein Patient mit Behinderung sensibel auf gewisse Gerüche reagiere, müsse man diese von ihm fernhalten. Selbiges gilt für die Medikamentengabe, wenn ein Behandelnder beispielsweise unter Schluckstörungen leidet.  „Es gilt die Behandlung stets anzupassen und nach Alternativen abzuwägen.“

In der Ruhe liegt die Kraft

#7: Vermeide Eingriffe in Rituale und die Patientenumgebung, außer…

Ritualisierte Handlungen sind im Krankenhaus nicht immer für Patienten mit Behinderung möglich. In manchen Fällen, wie zum Beispiel das Positionieren des Rollstuhles oder der Gehilfe an derselben Stelle im Zimmer, musst Du als Pflegekraft aber besonders achtsam sein.

„Ich rate den Pflegekräften einfach zu fragen, ob man den Rollstuhl kurz verschieben darf. Wird das verneint, muss das akzeptiert werden, da sich der Patient sonst schnell verängstigt fühlen könnte, da Dinge gegen seinen Willen gemacht werden.“ Sollte der Betroffene allerdings einwilligen, darfst Du als Pflegekraft somit in die Rituale des Patienten Einfluss nehmen.

#8: Arbeite an Deinem Auftreten

Der Schichtbetrieb im Krankenhaus ist durchgetaktet. Die Patientenversorgung und – behandlung erfolgt teils unter enormen Zeitdruck. Stress und Hektik sind da in gewisser Weise vorprogrammiert. Dennoch ist es wichtig, dass Du diese Hektik nicht vor dem Patienten ausstrahlst. Ein Patient mit Sehbeeinträchtigung nimmt nicht Dein nettes Lächeln auf, sondern spürt die schnellen Bewegungen, Deine hektische Art und fühlt sich so schnell unwohl. 

„Der Druck überträgt sich auf die Stimmungslage der Patienten. Diese wirken dann selbst angespannter, was wiederum Schwierigkeiten in der weiteren Behandlung zur Folge haben kann“, so die Expertin für Behindertenmedizin.

#9: Kommuniziere diese Inhalte NIE mit dem Betreuer ohne den Menschen mit Behinderung miteinzubeziehen

Patienten mit Behinderung sehnen sich nach Normalität im zwischenmenschlichen Umgang. „Man sollte deshalb alltägliche Dinge, zum Beispiel die Frage was jemand trinken oder essen möchte, daher immer mit dem Patienten besprechen oder diesen zumindest miteinbeziehen und dabei ansehen.“ Schließlich gebe es auch über die Gestik oder unterstützende Kommunikation Wege diese Wünsche mitzuteilen, so Ott-Ordelheide. Belange, wie die Planung des Krankenhausaufenthaltes, sollten der Expertin zufolge in solchen Fällen jedoch mit den Angehörigen oder Betreuern besprochen werden.

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